Themen
Vom Zeichentisch ins Testlabor
Wissenschaft und Forschung nehmen Einfluss auf Politik und Wirtschaft – wie sieht das in der Architektur aus? Fragen wie Klimawandel, soziale Gerechtigkeit, urbane Mobilität überschreiten die Kernkompetenz von Architekt:innen. David Chipperfield Architects verstehen sich als Schnittstelle für den Wissenstransfer mit Spezialist:innen. Beim Projekt Amorepacific betraten sie mit 500 Fachplaner:innen Neuland. Das Berliner Büro Gewers Pudewill sieht Reibungsflächen zwischen neu entwickelten Produkten und Bauvorgaben. Sie suchen Inspiration nicht nur in Neuentwicklungen, sondern in traditionellen Bautechniken.
Ästhetisch, nachhaltig, ressourcenschonend, klimafreundlich: Die Anforderungen an Architektur werden immer komplexer. Sollten Architekt:innen deshalb enger mit Forscher:innen zusammenarbeiten? FORMLINER sprach mit David Chipperfield Architects und Gewers Pudewill über Architektur im Dialog mit Wissenschaft.
Wissenschaft und Forschung haben sich seit einigen Jahren an die Spitze gesellschaftlicher Diskurse gesetzt. „Wir wollen, dass die Politik auf die Wissenschaftler:innen hört“, fordert Klimaaktivistin Greta Thunberg. In der Corona Pandemie haben Virolog:innen und Einrichtungen wie das Robert Koch Institut das Handeln der Politik maßgeblich mitbestimmt. Wissenschaft und Forschung sind auch in der Industrie der Treiber zur ständigen Neuentwicklung von Produkten, damit Unternehmen im weltweiten Wettbewerb bestehen.
Amorepacific Unternehmenssitz, Seoul,
© David Chipperfield Architects
Architekturprodukte – Wohnhäuser, Gewerbegebäude oder öffentliche Bauten – haben einen deutlich längeren Lebenszyklus als Konsumprodukte.
Der Klimawandel, urbane Mobilität, Ressourcenknappheit und selbst Fragen der sozialen Gerechtigkeit verlangen nach Antworten, die weit über die Kernkompetenz der Architekt:innen hinausgehen.
„Architektur ist keine Wissenschaft“, sagt Hans Krause, Associate im Berliner Büro von David Chipperfield Architects. „Trotzdem sind wir immer mehr angewiesen auf neue Erkenntnisse aus der Forschung.“
David Chipperfield Architects pflegen in ihrer Arbeit einen intensiven Dialog mit Fachleuten aus den unterschiedlichsten Bereichen. Im Berliner Büro veranstalten die Architekt:innen regelmäßig Office Talks, bei denen eingeladene Spezialist:innen neueste Produkte und Erkenntnisse vorstellen. Die Mitarbeiter:innen nehmen als Zuhörende oder Referent:innen an Kongressen teil. Das Wissen kommt dabei weniger aus eigener Forschungstätigkeit oder akademischem Engagement, sondern vor allem aus den Projekten. „Wir sind ein kreatives Unternehmen“, sagt Hans Krause. „Deshalb ist unsere Arbeit an sich innovativ und sucht nach zukunftsweisenden Methoden, Gebäude auszustatten und zu bauen“.
Vor allem im Austausch mit den Fachplaner:innen und der Industrie, die eigene Forschung betreibt, entstehen Lösungen, die weit über die rein gestalterische Entwurfsplanung hinausgehen. „Unserer Aufgabe ist es vor allem, den Wissenstransfer zu gewährleisten. Dabei führen wir Spezialist:innen aus unterschiedlichsten Bereichen zusammen und überführen deren Erkenntnisse in eine pointierte Idee“, sagt der Architekt.
Amorepacific Hauptsitz
Architekt
David Chipperfield Architects
Ort
Seoul, Südkorea
BGF
216.000 qm
Jahr
2010-2017
Technische Zeichnung, Amorepacific Unternehmenssitz, Seoul,
© David Chipperfield Architects
Praxistests im Windkanal
Innenansicht, Amorepacific Unternehmenssitz, Seoul, © David Chipperfield Architects
Krause war Leiter für das Projekt Amorepacific, das David Chipperfield Architects in Korea realisiert haben. Das Gebäude hat eine LEED-Zertifizierung in Gold bekommen. Um die hohen ökologischen Ansprüche an das Gebäude zu erfüllen, sicherten sich die Architekt:innen beim Bau die Expertise von über 500 internationalen Fachplaner:innen. Neuland betraten David Chipperfield Architects vor allem bei der Fassade, die mit einem eigens für dieses Projekt entwickelten Sonnenschutzsystem aus Lamellen ausgestattet ist, das die Klimatisierungskosten reduziert. Das Profil der Lamellen ist dem von Flugzeugflügeln nachempfunden. Um Windgeräusche und Vibration zu vermeiden, wurden umfangreiche Versuche und Tests an einem Gebäudemodell im Windkanal durchgeführt.
Der für Architekt:innen klassische Bereich der Fassadengestaltung fand bei der Arbeit an Amorepacific nicht mehr nur am Zeichentisch statt, sondern auch in hochspezialisierten Test- und Forschungslaboren.
Obwohl die Schnittmengen der Architektur zu anderen Wissens- und Praxisfeldern immer größer und zwingender werden, stößt die Einbindung neuester Erkenntnisse auf Hindernisse: „Wir sehen tolle neue Materialien beispielsweise bei der Fassadenbeschichtung, doch oft sind diese spannenden Produkte aufgrund der vielen Auflagen des Brandschutzes oder der Bauphysik leider nicht genehmigungsfähig“, sagt Architekt Georg Gewers vom Berliner Architekturbüro Gewers Pudewill.
Architekt:innen bringen die Auflagen beim Bauen in eine ganz besondere Verantwortung, oft verbunden mit rechtlichen Fragen bei der Haftung und Gewährleistung: „Unsere Aufgabe ist es zu prüfen, ob all diese neuen Entwicklungen auch umsetzbar und für das Projekt angemessen sind“, sagt Gewers. Er beobachtet, dass Bauherr:innen bei einem Gebäude nicht mehr nur auf die Kosten schauen, sondern auch auf den Fortschritt, den die Bauten repräsentieren: „Die Welt hat sich in den letzten zehn Jahren total geändert. Viele Bauherr:innen wollen mit einem Gebäude auch etwas ausstrahlen. Deshalb gibt es großes Interesse an neuen Lösungen in den Bereichen klimafreundliches Bauen oder Ökologie. Zertifizierungen in diesem Bereich wirken sich für die Bauträger:innen zunehmend auch wertsteigernd auf das Gebäude aus.“
Fortschritt dank alter Baupraktiken
Innenansicht, Amorepacific Unternehmenssitz, Seoul, © David Chipperfield Architects
Henry Pudewill glaubt, dass Fortschritt nicht immer aus dem Labor kommen muss. Stattdessen reicht manchmal der Blick in die Vergangenheit:
„Wir haben uns beim Bauen extrem von der Natur entfernt, die etwa bei der Konstruktion viel feinere und filigraner Vorgaben zum Bauen bietet. Wir haben verlernt, dem zu folgen und intuitiv zu bauen.“
Pudewill nennt ein Beispiel aus dem arabischen Raum: Seit Tausenden von Jahren werden dort Gebäude mit im Wind flatternden, feuchten Textilien gekühlt. Warum soll man statt dieser simplen, bewährten Methode teure, komplizierte und energieintensive Technologie einsetzen, die in zwei Jahren veraltet ist. Pudewill fordert von Architekt:innen mehr Achtsamkeit gegenüber der Flut an Produkten aus der Industrie: „Bei vielen neuen Materialien stellen wir in zwanzig Jahren fest, dass man sie nicht mehr voneinander trennen und recyceln kann oder dass sie gesundheitsschädlich sind. Wir sollten uns anschauen, welche Materialien und Bautechniken gibt es und wie können wir sie mit den Neuentwicklungen verbinden.“
Bestandsschutz mit Carbonbeton
Diesen Anspruch, Alt und Neu zu versöhnen, setzen Gewers Pudewill bei der Umnutzung eines alten Kaufhauses am Berliner Ostbahnhof um. Ein Kaufhaus aus DDR-Bestand wird zum Bürogebäude umgebaut. Die Architekt:innen erhalten dabei das komplette Bestandstragwerk aus Beton und verstärken es mit einer ultraleichten Bewehrung aus Carbon. Darauf wird dann die moderne Glasfassade neu aufgesetzt. „Oft ist es auch im Sinne des Klimaschutzes und der Ökologie sinnvoller, einen Bestand umzurüsten, anstatt ihn abzureißen und dann mit großem Aufwand an Ressourcen und Energie komplett neu zu bauen“, sagt Henry Pudewill.
Auch das zählt für Pudewill zur Kernkompetenz von Architekt:innen: Sich im Zweifelsfall gegen die neueste Forschung zu entscheiden, wenn es für das individuelle Projekt geboten ist.
UP! Berlin
Umbau ehemaliges Kaufhaus zu Büro- und Wohngebäude
Architekt
Jasper Architects und Gewers Pudewill
Ort
Berlin, Deutschland
BGF
65.000 qm
Jahr
2017 – 2021