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Rückkehr der Natur in die Stadt

Fassadenbegrünung liegt im Trend. Doch wie bleibt die „grüne Architektur“ tatsächlich grün und ihre Pflege wirtschaftlich? Ein Gespräch über die Chancen und Herausforderungen grüner Fassaden mit Dr. Tobias Graf von Artificial Ecosystems

Ob Wildblumen auf dem Dach, Moose oder Büsche an der Fassade: Immer mehr Bauherr:innen und Architekt:innen entscheiden sich für sprichwörtlich grüne Architektur. Die Herausforderung besteht darin, das Grün am Leben zu halten und die Kosten für deren Pflege möglichst gering zu halten.

Unternehmen entwickeln deshalb neue Ansätze für die Fassadenbegrünung. Das Startup Artificial Ecosystems will durch die Integration von Pflanzen in Fassaden den Lebensraum von Pflanzen erweitern und gleichzeitig deren Wachstum technologisch unterstützen. Dafür kombiniert Artificial Ecosystems natürliches Pflanzenwachstum mit Künstlicher Intelligenz. Der nächste Schritt für die Gründer: die Realisierung eines Pilotprojekts. FORMLINER sprach mit Dr. Tobias Graf, Geschäftsführer und einer der Gründer von Artificial Ecosystems, über die Möglichkeiten grüner Fassaden.

Interviewpartner

Dr. Tobias Graf ist Biologe und Pflanzenökologe. Graf hat Artificial Ecosystems 2020 gemeinsam mit dem Informationselektroniker und Wirtschaftsinformatiker Björn Stichler, dem Bauingenieur Martin Hamp und dem Betriebswirtschaftler Alexander Pohl gegründet. Das Unternehmen ist ein Startup der Technischen Universität Kaiserslautern.

FORMLINER

Der Klimawandel ist nicht mehr zu ignorieren. Die moderne Architektur sucht nach neuen, klimafreundlichen Entwicklungen. Sind grüne Fassaden der richtige Weg zur Rettung des Klimas?

GRAF

Wir müssen uns in allen Lebensbereichen nachhaltig verhalten. Es ist gut, dass die Menschheit einsieht, dass sie einen großen Einfluss auf unser globales Miteinander hat. Die Architektur kann durch die Verwendung neuer Baumaterialien vorbildhaft handeln. Wir etablieren zum Beispiel unsere Fassadenbegrünungen auf recyceltem Beton. Durch den Einsatz unseres selbstbegrünenden Bauelementes BryoSYSTEM an vertikalen Flächen wollen wir positive Aspekte in die Stadt einbringen.

FORMLINER

Was kann das selbstbegrünende Bauelement?

GRAF

Der Begriff ist dem Lateinischen entlehnt: Die Wissenschaft bezeichnet Moose als Bryophyten. Es handelt sich um Fassadenplatten aus Naturstein oder Beton beziehungsweise Recyclingbeton, die sich selbstständig mit einer Moosoberfläche überziehen. Der Vorgang ist recht komplex, da Moose natürlich einen angemessenen Lebensraum und Feuchtigkeit benötigen. Wir stellen die physikalischen und chemischen Grundvoraussetzungen in der Fassadenplatte bereit, damit Moose wachsen können.

FORMLINER

Bepflanzte Häuserfassaden im urbanen Raum haben positive Effekte: Die Pflanzen binden Feinstaub, produzieren Sauerstoff und sorgen durch Beschattung und die Verdunstung von Wasser für ein angenehmes Klima in der direkten Umgebung. Welche Wirkungen haben Pflanzen noch an der Fassade?

GRAF

Begrünte Fassaden reduzieren den Grauton in unseren Städten, sie halten Gebäude im Winter warm und kühlen sie im Sommer, außerdem schluckt eine Vertikalbegrünung Schall und Lärm. Bepflanzte Flächen haben generell eine positive Wirkung auf den Menschen.

FORMLINER

Der französische Botaniker Patrick Blanc ist mit seinen vertikalen Gärten international bekannt geworden. Natürliches Grün als vertikales Gestaltungselement wirkt sehr ungewöhnlich. Wie bewerten sie ein Objekt wie das Quai Branly Museum in Paris?

GRAF

Patrick Blanc ist der Wegbereiter der Fassadenbegrünung. Begonnen als Kunstprojekt, bauen heute eigentlich alle Initiativen zum Thema bepflanzte Fassade auf seinen Ideen auf.

Das Musée du quai Branly für außereuropäische Kunst in Paris, Pflanzenwand von Patrick Blanc.

FORMLINER

Im mitteleuropäischen Raum herrschen ausgeprägte Jahreszeiten, in deren Verlauf sich Bäume und Pflanzen stark verändern. Wie können oder müssen Architekt:innen und Fassadenplaner:innen darauf reagieren? Auf welche Details sollten sie in der Werkplanung einer bepflanzten Fassade besonders achten?

GRAF

Planer:innen sollten von Anfang an mit Expert:innen zusammen arbeiten. Gärtner:innen oder Pflanzenökolog:innen sollten so früh wie möglich in die Planung integriert werden. Diese Fachleute wissen, welche Pflanzen an den unterschiedlichsten Einsatzorten wachsen können und welchen Anspruch sie an ihre Umgebung stellen. Die Südfassade – um ein Beispiel zu nennen – ist für jede Begrünung eine Herausforderung mit den stärksten klimatischen Extremen im Verlauf der Jahreszeiten.

Pflanzen stellen biologisches „Material“ dar, das darf nicht vergessen werden: das Material agiert nach eigenen Bedürfnissen und wächst nicht immer, wie Architekt:innen es wünschen. Hier ist Toleranz vonseiten der Planer:innen und bei Bauherr:innen wichtig, auch hinsichtlich der Reaktion der Pflanzenwelt auf deren stark ausgeprägte Veränderungen innerhalb der Jahreszeiten. Eine Fassadenbegrünung ist hochkomplex, das darf man nicht unterschätzen.

FORMLINER

Sie haben ein besonderes Pflanzsystem entwickelt: Es besteht aus einem Substratelement mit einer Steuerung und einem Wassertank. Zusätzlich bauen Sie zahlreiche Sensoren in Ihr System ein, die die Feuchtigkeit und andere Umweltparameter überwachen. Diese Daten werten Sie messtechnisch aus. Das klingt sehr kompliziert. Welchen Vorteil bietet Ihr System?

GRAF

Durch die Überwachung von meteorologischen Daten sind wir oder die Bauherr:innen in der Lage, die tatsächlichen Umwelteinflüsse genau zu erfassen und können dann recht schnell auf die Bedürfnisse der Pflanzen Einfluss nehmen. Die gewonnenen Informationen sind nötig, um die Pflanzen dauerhaft und zuverlässig zu versorgen. Darüber hinaus lassen sich diese Daten zukünftig öffentlichkeitswirksam in Smart-City- oder Smart-Home-Anwendungen einbinden. Hier können wir neben Wetterdaten auch die Umweltleistungen der Grünwände darstellen – vergleichbar zur Leistungsanzeige von Photovoltaikanlagen. An der Fassade oder im Eingangsbereich von Gebäuden lassen sich die quantifizierten Leistungen der Pflanzen auf Dashboards oder Monitoren präsentieren.

FORMLINER

Welchen Vorteil haben Betonelemente als Habitat für Moose?

GRAF

Wir arbeiten nicht nur mit Betonelementen, sondern auch mit Natursteinen. Während uns der Naturstein gewisse Grenzen vorgibt, ermöglicht uns der Beton die Installation additiver Maßnahmen. Zum Beispiel eine „eingebaute“ Wasserrückhaltemöglichkeit, die die Pflanze auch in trockeneren Perioden mit Wasser versorgt.

FORMLINER

Wo liegen die Grenzen für grüne Fassaden?

GRAF

Bisher ist die Disziplin der Fassadenbegrünung noch in der Entwicklung. Die Systeme sind nicht günstig, denn dahinter steckt eine hochkomplexe Technik. Bautechnisch sind in meinen Augen keine Grenzen gesetzt.