Themen

Helfer in der Stadt

Barrierefreie Mobilität im Straßenverkehr ist für seh- oder gehbehinderte Menschen keine Selbstverständlichkeit. Spezielle Bodenleitsysteme helfen den Betroffenen, sich auf der Straße zu orientieren und weitgehend selbständig zu bewegen.

Denken Sie mal an ihren morgendlichen Arbeitsweg: Sie besteigen den Zug am überfüllten Bahnsteig. Sie steigen an Ihrer gewohnten Haltestelle aus, verlassen den Bahnsteig und überqueren anschließend die Straße, um zu Ihrer Arbeitsstelle zu gelangen.

Und jetzt stellen Sie sich vor, sie tun all das blind. Oder sitzen dabei im Rollstuhl.

Wenn die Mobilität oder die Sinne eingeschränkt sind, ist die Teilnahme am Straßenverkehr eine Herausforderung. Um körperlich eingeschränkten Mitmenschen die Möglichkeit zu geben, sich sicher und weitestgehend unabhängig auf Straßen, Bordsteinen und Bahnhöfen zu bewegen, braucht es Helfer in der Stadt.

Laut einer Schätzung der Weltgesundheitsorganisation WHO aus dem Jahr 2010 leben etwa 1,2 Millionen blinde und sehbehinderte Menschen in Deutschland. Sie benötigen zur Orientierung sogenannte Bodenindikatoren: Taktil erfassbare Leitstreifen und Aufmerksamkeitsfelder.

Leitstreifen und Aufmerksamkeitsfelder

Der Ursprung dieses Leitsystems liegt in Japan, wo 1967 eine strukturierte Fußbodengestaltung entwickelt wurde, die blinde Menschen mit dem Blindenstock oder den Füßen ertasten können. In Deutschland fand das System erstmals in den frühen 80er Jahren Anwendung und wurde seitdem stetig weiterentwickelt und standardisiert. Die Bundesrepublik ist zwar noch lange nicht barrierefrei, doch inzwischen werden die Bodenleitsysteme immer häufiger im Straßenverkehr verbaut. „Die Nachfrage nach Produkten aus dem Bereich der Bodenindikatoren ist in den letzten Jahren sprungartig gestiegen“, sagt Lars Schaubhut, Vertriebsleiter und Prokurist bei Profilbeton. Der hessische Anbieter fertigt seit mehr als zwanzig Jahren Produkte, die körperlich eingeschränkten Menschen im Straßenverkehr helfen.

Für sehbehinderte Menschen sind das Bodenplatten mit Rippen und Noppen. Rippenstrukturen dienen als Leitstreifen, die je nach Ausführung auf Gehrichtung, Fahrbahnquerungen, die Gehrichtung zu seitlich gelegenen Zielen und Einstiegsfelder an Haltestellen hinweisen. Noppenstrukturen fungieren als Aufmerksamkeitsfelder, die dem Leser „Halt“ oder „Achtung“ signalisieren und ihn vor Gefahrenstellen wie Hindernisse, Niveauwechsel oder ungesicherte Querungsstellen, zum Beispiel an einer Straße, warnen.

Taktiler und akustischer Kontrast zur Umwelt

Gelesen werden die Bodenindikatoren mit den Füßen oder dem Blindenstock. Sehbehinderte Menschen lernen verschiedene Lesetechniken, etwa die Pendeltechnik, bei der der Stock den Gehweg in einem bestimmten Rhythmus fächerförmig abtastet oder die Schleiftechnik, bei der der Stock fächerförmig über den Gehweg schleift. Durch das Bewegen des Stocks mit seiner Lesespitze werden die Rillen oder Noppen sowohl taktil als auch akustisch im Kontrast zur Umwelt wahrgenommen und die Informationen lesbar.

Für gehbehinderte Menschen kommt es im Straßenverkehr vor allem auf so wenige Niveauunterschiede wie möglich an. Für sie sind Bordsteinkanten und das Überwinden von Schwellen oder Stufen ein Problem, etwa beim Benutzen des Nahverkehrs. Auch wenn die Bordsteinhöhen genormt sind, muss beim Ein- und Aussteigen eines Busses oft eine Schwelle überwunden werden. Busfahrer müssen besonders nah an die Bordsteinkante heranrollen und laufen Gefahr, dabei die Reifen zu beschädigen.

Mit diesen beiden Herausforderungen sah man sich beim Neubau des ICE-Bahnhofs in Kassel konfrontiert. Die Betreiber wollten eine barrierefreie und gleichzeitig reifenschonende Lösung finden. Mitarbeiter des Verkehrsbetriebes und Ingenieur Wolfgang Hasch entwickelten den Sonder-Bordstein „Kasseler Sonderbord“: Der Bordstein wird mithilfe von RECKLI-Formen hergestellt und ist mit einem Selbstlenkungeffekt konzipiert, der den Bus ganz nah an die Bordsteinkante führt. Selbst wenn der Bus den Bordstein schräg anfährt, zwingt die Einkerbung den Reifen in die richtige Position und lenkt ihn sicher in die richtige Position. Die Kanten und der Beton sind so gestaltet, dass die Reifen des Busses nicht beschädigt werden.

Kooperation mit Blindenverbänden und Rollstuhlnutzern

Hasch patentierte die Erfindung und gründete das Unternehmen Profilbeton. Bei der Konzeption der Produkte arbeitet Profilbeton eng mit Behindertenverbänden zusammen. „Unser neuer Bordsteintyp, der Kasseler Sonderbord plus, wurde in enger Kooperation mit der Schweizer Fachstelle „Barrierefreier öffentlicher Verkehr – BöV“ getestet und entwickelt“, sagt Schaubhut. Zusätzlich wurde auf dem Gelände der Hamburger Verkehrsbetriebe HVV eine Testhaltestelle gebaut, an der der Bordstein mit den unterschiedlichsten Rollstuhltypen getestet wurde.

Bei der Entwicklung des Querungsbords kooperierte das Unternehmen mit Blindenverbänden und Rollstutznutzern gleichzeitig, um die Nutzbarkeit für beide Gruppen zu gewährleisten: Das Bodenleitsystem weist Blinde auf eine Querung im Straßenverkehr hin und ist zugleich sicher mit dem Rollstuhl befahrbar.

Die Bordsteine aus Hessen haben es sogar bis nach Afrika geschafft: Für die Fußballweltmeisterschaft 2010 lieferte Profilbeton Produkte nach Kapstadt. „Seit einiger Zeit gibt es in Südafrika mehrere Lizenznehmer“, sagt Schaubhut. Die Bordsteine sind mittlerweile auch in dem Land angekommen, in dem das Blindenleitsystem entwickelt wurde: Die japanische Stadt Okayama City hat vor kurzem auf dem Universitätsgelände eine Testhaltestelle in Betrieb genommen.